Kollektive Performance
Kollektive Performance zum Todesmarsch am 24.03.2013
Zum Gedenken an die Evakuierung des KZ-Adlerwerke am 24.3.1945 mit einem Marsch der Häftlinge nach Hünfeld wurde am Sonntag, den 24.3.2013, eine kollektive Performance am Mainufer von der Leonhardskirche bis zum Eisernen Steg durchgeführt. Die Performance wurde initiiert durch die Künstlerin Ulrike Streck-Plath und LAGG, Schirmherr war OB Peter Feldmann, unterstützt von OB a.D. Petra Roth, Freundeskreis Frankfurt/Krakau, ev. Regionalverband, kath. Kirche Frankfurt, VVN-BdA, Ges. für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Gallus Theater, Deutsche Bahn, SPD UB Frankfurt, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke Frankfurt.
Winfried Becker hielt die Einführungsrede.
Einführungsrede
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind zusammengekommen, um an die Evakuierung des KZ-Adlerwerke in der Nacht vom 24.3.1945 zu erinnern und dieses Gedenken in einer kollektiven Performance zu begehen. Frau Ulrike Streck-Plath hat 24 Figuren aus Filz und Baustahl hier aufgestellt, wir werden sie gemeinsam bewegen und uns dafür eine Stunde Zeit nehmen. Um 15 Uhr können Sie in Höhe Eiserner Steg Ihre Eindrücke, Ihre Empfindungen, Ihre Anmerkungen in ein dort ausliegendes Buch eintragen. Danach gehen wir auseinander. Weitere Veranstaltungen der Gedenkreihe finden Sie auf dem Flyer, der von den Mitwirkenden abgegeben wird.
Die Performance hat in ähnlicher Form, vor einem Jahr am 25.3.2012 in Maintal-Dörnigheim stattgefunden. In diesem Jahr wird sie am Ausgangspunkt und Endpunkt des Marsches stattfinden, am 24.3. in Frankfurt und am 29.3. in Hünfeld. Frau Streck-Plath hat mich gebeten, die Einleitung der Frankfurter Veranstaltung zu übernehmen. Es bewegen mich persönliche Gründe, dies dankbar anzunehmen.
Ich gehöre zu einer Generation, die den Krieg nicht selbst erlebt hat, aber deren Kindheit von diesem Schnitt in das Leben unserer Eltern geprägt wurde. Der Krieg stahl ihnen die Jugend, zerstörte Familien und Ehen, traumatisierte sie durch Zwang und Gewalt und machte sie stumm. "Papa, wie war es im Krieg? Du warst Soldat!" "Ach Kind, es war schrecklich, es ist vorbei, ich will darüber nicht reden!" Diese dunkle Macht über unser Leben lies sich nicht auflösen. "Jetzt iss deinen Teller auf, was meinst du, wie wir gehungert haben!" Wir mussten dieses Schweigen brechen! Und mussten genau wissen, wie es war!
Meine Mutter dagegen erzählte - sie kommt aus Dörnigheim - von Lebensmittelkarten, Bomberstaffeln, dem roten Himmel über dem brennenden Frankfurt und Hanau. Aber das Grauen des Krieges hatte sie nur einmal gesehen. "Am Sonntag kurz bevor die Amis kamen, vorm Kirchgang, da haben sie Gefangene durch das Dorf getrieben": ausgemergelte Gestalten, dünn wie Skelette, eingefallene Augenhöhlen, stiere Blicke, lautlos schleichend. Nur die Stiefel der Wachmannschft zerhackte die Stille. In den Tagen danach, die Amerikaner näherten sich der Mainlinie, wurden schnell die Leichen vergraben, die an der Fechenheimer Chaussee gefunden wurden.
Mein Name ist Winfried Becker, ich bin Leiter des Gallus Theater, das 1997 in die ehemaligen Adlerwerke umgezogen ist. In meine erste Radiosendung September 1997 lud ich den letzten Betriebsratsvorsitzenden der Adlerwerke ein, Herrn Lothar Reiniger. In dem Interview sprach er von einem KZ in den Adlerwerken. Man solle doch bitte Zwangsarbeit nicht mit diesem besonderen Begriff belegen, erwiderte ich. Er brachte mir daraufhin ein Buch, das die grauenvollen Tatsachen mit wissenschaftlicher Genauigkeit belegte, erarbeitet von zwei Autoren, Ernst Kaiser und Michael Knorn, auch meiner Generation. Um das Buch zu recherchieren, mussten auch sie gegen die Sprachlosigkeit kämpfen, die Stummen zum Reden bringen, dem Vernichten von Dokumenten zuvorkommen. Ich habe eine große Hochachtung vor ihrer erschöpfenden Leistung.
Das Buch stürzte uns in die Krise. Wie sollten wir damit umgehen? Ein Theater in einem ehemaligen KZ betreiben?
Die Konsequenz durfte nicht die Verweigerung sein, das Verschweigen, auch nicht die museale oder historische Distanz. Wir müssen immer wieder in aktuellen Formen an diese fast unerträglichen Tatsachen zur Mahnung erinnern. Diese Selbstverpflichtung war für uns die einzige Möglichkeit, diesen Standort zu akzeptieren.
Wir haben inzwischen viele Gedenkveranstaltungen durchgeführt mit Opfern, Zeitzeugen, den Autoren, Künstlern, den Kirchengemeinden, dem Stadtteil. Wir kämpfen noch heute um die Aufnahme in die Geschichtschreibung der Stadt Frankfurt.
Wir sind heute hier, um in einer besonderen Weise an das Leiden aller Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Uns ist schmerzlich bewußt, dass aktuell aus dem Nationalsozialistischen Untergrund wieder Menschen ermordet und Dokumente geschreddert werden. Unsere Selbstverpflichtung muss sein, dass die Erinnerung an die Opfer von gestern uns verpflichtet rassistische Morde von heute zu verhindern. Aber am heutigen Jahrestag vergegenwärtigen wir uns im Besonderen diejenigen, die heute vor genau 68 Jahren hier vorbeigekommen sind.
1600 Häftlinge sind in das KZ Adlerwerke unter dem Decknamen Katzbach überführt worden. Etwa 560 fanden den Tod durch Entkräftung, durch Verhungern, durch den Strang, durch Fliegerangriffe, Erschießen auf der Flucht und wurden in einem Massengrab auf dem Hauptfriedhof verscharrt. Es ist die höchste Sterberate außerhalb der Vernichtungslager. 12 Tage vor dem Datum, am 12.3.1945, waren noch 874 Häftlinge im Werk. Die Maschinen wurden abgebaut und die Evakuierung vorbereitet.
Am 13.3. wurden 535 kranke, sterbende und marschunfähige Häftlinge in Waggons getrieben, um nach Bergen Belsen transportiert zu werden. Sie standen drei Tage ohne Wasser und Essen vor der Fabrik, 70 starben allein schon in dieser Zeit, weitere bei Tieffliegerangriffen und aufgrund Erschöpfung. Lediglich 8 Häftlinge aus den Adlerwerken werden Bergen Belsen überleben.
Die letzten 350 Häftlinge werden am 24.3. um 22 Uhr zum Appel gerufen. Es ist Samstag und wegen der Tiefflieger kann nur nachts marschiert werden. Vier einachsige Wagen werden beladen, 2 für das Gepäck der Wachmannschaft, 1 für Verpflegung am Anfang des Zugs, der letzte Wagen für die marschunfähigen am Ende des Zugs. In der Nacht vielleicht gegen 2-3 Uhr kommen sie hier vorbei. Kurz nach Fechenheim werden alle marschunfähigen erschossen und in den Graben oder Main geworfen. Gegen 6-7 Uhr werden sie Dörnigheim passieren. Es ist Palmsonntag. Meine Mutter im Sonntagskleid mit dem Gesangbuch in der Hand wird sie sehen. Bei Hanau werden sie rasten und 24 der hier vorbeiziehenden werden erschossen sein. Nach vier weiteren Nachtmärschen erreichen 280 Häftlinge Hünfeld, einigen wenigen gelingt die Flucht. Nur etwa 50 von ihnen erleben die Befreiung.
Es gibt keine Bilder des Marsches, nur Augenzeugen. Aber jedem drängen sich Bilder auf, Filmaufnahmen, Wochenschauberichte der KZ-Befreiung. Wir wollen schweigend die zum Zug formierten Gestalten ansehen. Wenn Sie es für den richtigen Zeitpunkt halten, dann helfen sie einer Gestalt Ihrer Wahl ein paar Meter weiter Richtung Hünfeld. Der Zug ändert seine Form bis jemand anderes einer anderen Gestalt helfen wird. In aller Ruhe. So wird der Zug sich weiterbewegen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Wir beginnen jetzt.